Schlaufenlose Bastarda aus Cod. Guelf. 547 Helmst., 1r

Ein Streifzug durch die Schriftgeschichte anhand der digitalisierten Handschriften der HAB

Laut der Deutschen Nationalbibliothek streben erfolgreiche Digitalisierungsprojekte folgende Ziele an: „Einerseits dient die Digitalisierung dem Schutz und Erhalt der originalen Text-, Bild- und Tondokumente des kulturellen Gedächtnisses Deutschlands. Zum anderen sollen mit der Digitalisierung die Sichtbarkeit, der Zugang sowie die Nutzungsmöglichkeiten der eigenen Bestände für Wissenschaft und Forschung, für Bildung und Kultur sowie für die interessierte Öffentlichkeit im In- und Ausland grundlegend verbessert werden.“1

Die Nutzungsmöglichkeiten des gemeinsamen Digitalisierungsprojekts der Herzog August Bibliothek mit The Bodleian Libraries of the University of Oxford sind daher vielseitig. Es beschränkt sich nicht nur auf die Inhaltserschließung, sondern trägt ebenso zur Beantwortung von Forschungsfragen zur Materialität der Handschriften bei. John Barrett stellt die Darstellung der Handschriften in das Zentrum seines Blogbeitrags vom 17. Mai 2019: Anstatt ausschließlich den Buchdeckel als „erste Seite“ zu digitalisieren, werden im Zuge des Projekts auch der Buchblock, der Buchrücken und der Ober- und Unterschnitt aufgenommen, sodass ein vollständiges digitales Faksimile entsteht. Dieses fördert eine weitere Auseinandersetzung mit der Materialität der Handschriften. Aber nicht nur die Bucheinbände sind ein fruchtbares Thema für kodikologische Fragestellungen. Gleiches gilt auch für die in den Handschriften verwendeten Schriften.

An dieser Stelle soll anhand der fünfzehn bereits digitalisierten Handschriften aus dem Bestand der Herzog August Bibliothek (Stand vom 14.06.2019) ein kurzer Streifzug durch die Schriftgeschichte unternommen und die wichtigsten verwendeten Schriften kurz vorgestellt werden.

Die überwiegende Mehrheit des digitalisierten Bestands der Handschriften lässt sich auf das fünfzehnte Jahrhundert datieren (Cod. Guelf. 547 Helmst., Cod. Guelf. 238 Helmst., Cod. Guelf. 212 Helmst., Cod. Guelf. 560 Helmst., Cod. Guelf. 533 Helmst., Cod. Guelf. 369 Helmst., Cod. Guelf. 310 Helmst., Cod. Guelf. 272 Helmst., Cod. Guelf. 203 Helmst., Cod. Guelf. 282 Helmst., Cod. Guelf. 35 Helmst., Cod. Guelf. 173 Helmst. und Cod. Guelf. 1297 Helmst.). Ausnahmen sind Cod. Guelf. 373 Helmst., der aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt und Cod. Guelf. 309 Helmst., welcher zwischen 1485 und 1510 zu datieren ist.

Die mögliche Schlussfolgerung, dass aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen den einzelnen Handschriften in ihnen überwiegend die gleiche Schrift verwendet worden ist, täuscht. Die hier digitalisierten Handschriften zeichnen sich durch ein diverses Schriftbild aus, von denen die wichtigsten Schriftarten mit einer kurzen Beschreibung und einem bildlichen Beispiel hier präsentiert werden sollen.

Textura

Das Typographielexikon bezeichnet die Textura als „den Prototyp einer Druckschrift“, welche wegen ihrer Verwendung in den Bibeldrucken Gutenbergs zu den bekanntesten mittelalterlichen Schriften gehört. Die Textura entwickelte sich schon vor Mitte des dreizehnten Jahrhunderts im Rheingebiet und zählt zu den kalligraphisch anspruchsvollen und demnach zeitaufwendigen Schriften, welche vorwiegend für lateinische Liturgica und Bibeln oder als Auszeichnungsschrift verwendet wurde. Weitere gängige Bezeichnungen der Textura lauten „Missal-“ oder „Psalterschrift“. Sie ist durch ihr dicht geschlossenes Schriftbild und die gebrochenen Rundungen unverwechselbar und kultivierte sich bis ins fünfzehnte Jahrhundert in unterschiedlichen Stilarten.

Abbildung 1: Textura aus Cod. Guelf. 1297 Helmst., 1r.

Eine im Vergleich etwas weniger aufwendige Variante ist die Textualis, die Wert auf eine klare und gut lesbare Buchschrift legt und zumeist im dreizehnten bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts verwendet wurde.

Beispiel aus dem Wolfenbütteler Bestand, dem Cod. Guelf. 35 Helmst.:

Abbildung 2: Textualis aus Cod. Guelf. 35 Helmst., 9v.
Abbildung 2: Textualis aus Cod. Guelf. 35 Helmst., 9v.

Gotische Kursive

Abbildung 3: Jüngere gotische Kursive aus Cod. Guelf. 373 Helmst., 1r.

Aus der gotischen Minuskel entstand gegen Ende des zwölften Jahrhunderts die gotische Kursive als Gebrauchsschrift. Sie steht in keinem Zusammenhang mit den früheren antiken römischen Kursiven, sondern ist eine mittelalterliche Neuschöpfung. Bis zum Ende des vierzehnten Jahrhunderts lösten unterschiedliche kursive Schriftarten die Textualis als Buchgebrauchsschrift fast vollständig ab. Ihr Siegeszug liegt in der Möglichkeit, zusammenhängend und fließend schreibend das Tempo des Abschreibens zu erhöhen, begründet. Diese neu entstandene Schreibschrift ist durch Schlingenbildungen an den Oberlängen von b, d, k, l etc. gekennzeichnet, die kurzschäftigen Buchstaben m, n, u und i sind in vielen Fällen kaum zu unterscheiden. Auch diese Schrift veränderte sich über die Zeit, im Wolfenbütteler Bestand lassen sich sowohl die ältere gotische Kursive (in Cod. Guelf. 35 Helmst.) als auch die vereinfachte Variante der jüngeren gotischen Kursive nachweisen (in Cod. Guelf. 310 Helmst., 369 Helmst., 560 Helmst., 373 Helmst.)

Bastarda

Abbildung 4: Bastarda aus Cod. Guelf. 309 Helmst., 151r.
Abbildung 4: Bastarda aus Cod. Guelf. 309 Helmst., 151r.

Die Bastarda ist im Grunde eine gotische Kursivschrift, welche sich durch ein höheres kalligraphisches Niveau auszeichnet. Sie vereint in sich die Vorzüge beider Schriftarten und ist durch ihre einfache Brechung von Rundungen und der Möglichkeit, einzelne Buchstaben wieder miteinander zu verbinden, unverkennbar. Die sichtbaren Schlaufen sind nun nicht mehr nur ein Merkmal des schnellen Schreibens, sondern Zierelemente. Wie Cod. Guelf. 547 Helmst. zeigt, existiert die Bastarda auch in unterschiedlichen Ausprägungen.

Abbildung 5: Schlaufenlose Bastarda aus Cod. Guelf. 547 Helmst., 1r.

Der kurze Auslug durch die Schriftgeschichte zeigt die Vielfalt der im fünfzehnten Jahrhundert verwendeten Schriften. Diese unterscheiden sich nicht nur rein optisch, sondern können (wie beispielsweise die Textura) als Hinweisgeber auf die Gattung der Handschriften dienen. In einigen Fällen ist sogar aufgrund der spezifischen Hände eine Rekonstruktion der Entstehungsumstände möglich.

Eine ausführliche Beschreibung aller Handschriften, inklusive der Bestimmung aller in ihr verwendeter Schriften, findet man in der Handschriftendatenbank der Herzog August Bibliothek.

Ellen Wendel studiert zur Zeit im Masterstudiengang Geschichte an der Georg-August Universität Göttingen. Sie absolvierte an der Herzog August Bibliothek ein sechswöchiges Praktikum, davon verbrachte sie zwei Wochen in der Abteilung für Handschriften.

Verwendete Internetressourcen und Literatur

  • Kluge, Mathias Franc (Hg.): Handschriften des Mittelalters: Grundwissen Kodikologie und Paläographie, Thorbecke, Ostfildern 2014.
  • Mazal, Otto: Paläographie und Paläotypie. Zur Geschichte der Schrift im Zeitalter der Inkunabeln, Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1984.
  • Schneider, Karin: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten, in: Sammlung Kurzer Grammatiken, Germanischer Dialekte, hgg. von Helmut Gneus u.a., Ergänzungsreihe Nr. 8, 2. überarbeitete Auflage im Max Niemeyer * Verlag, Tübingen 2009.
  • http://www.mittelalterliche-geschichte.de/work/mahist/index.php?id=11&lang=de&tpl=2
  • https://www.typolexikon.de/textura/