Marginal painting, J 29, fol. 119r.

Zwei Hildesheimer Handschriften aus dem Zisterzienserinnenkloster Medingen

Von den zahlreichen mittelalterlichen Frauenklöstern in Norddeutschland haben sich mit Ausnahme des Klosters Ebstorf nur wenige Handschriften erhalten. Es ist ein Glücksfall der Überlieferung, dass inzwischen über 40 Handschriften dem Zisterzienserinnenkloster Medingen nahe Lüneburg zuzurechnen sind. Auch wenn es sich in manchen Fällen nur um Zuweisungen handelt, ist bei der Mehrzahl die Provenienz aus Medingen unstrittig. Mit Sicherheit in Medingen entstanden sind die beiden heute in der Dombibliothek Hildesheim aufbewahrten Codices mit der Signatur J 27 und J 29. Beide Handschriften ergänzen vortrefflich den Bestand der Medinger Handschriften, die heute in Oxford aufbewahrt werden. Eine Besonderheit beider Hildesheimer Handschriften ist deren genaue Datierung – ein seltener Vorteil gegenüber den meisten anderen Medinger Codices, die oft nur relativ und damit hypothetisch datiert werden können. Die Bedeutung der festgeschriebenen Datierungen für die Forschung kann deshalb nicht hoch genug eingeschätzt werden. Beide Handschriften sind im Jahr 1478 entstanden und bilden einen Fixpunkt für die gesamte Medinger Überlieferung. Bei der Handschrift J 27 handelt es sich um ein Psalterium, bei der anderen Handschrift J 29 um ein Gebetbuch für die Osterzeit. Beide Codices unterscheiden sich nicht nur inhaltlich. Ihre unterschiedlichen Formate, die künstlerische Ausführung sowie die Qualität von Schrift und Malerei zeigen die Möglichkeiten des Medinger Skriptoriums, in dem die Nonnen selbst gemäß ihrer individuellen Begabung Handschriften anfertigten. Anders als das kleinformatige (13,5 x 9 cm), reich illustrierte Gebetbuch ist das deutlich größere Psalterium J 27 (19 x 13,5 cm) lediglich mit einer einzigen Illumination versehen, dem harfespielenden König David. Er füllt den Grund einer vergoldeten B-Initiale, die den Beginn des Psalters – Beatus vir – markiert. Die Darstellung Davids als Psalmist folgt einem ikonographisch etablierten Darstellungstypus am Beginn eines Psalters.

J 27, fol. 8v.

Das Ende des Psalteriums bildet eine Schreibernotiz, die sich nicht nur darauf beschränkt, die Mühen der Schreibtätigkeit zu schildern und damit einen geläufigen Topos in der Handschriftenherstellung zu bedienen. Selbstbewusst nennt die Schreiberin neben dem Ort, an dem die Handschrift entstand, das Zisterzienserinnenkloster Medingen bei Lüneburg, auch ihren Namen – Elisabeth von Winsen. Sehr genau gibt Elisabeth an, wie lange sie an dem Psalterium gearbeitet hat – ein gutes halbes Jahr: Vom Fronleichnamstag des Jahres 1478, der damals auf den frühesten Termin des Festes überhaupt fiel, nämlich den 21. Mai, bis zum ersten Adventssonntag, dem Tag, an dem der Introitus Ad te levavi gesungen wird. Erst zum Schluss kommt Elisabeth auf den Auftraggeber der Handschrift und seine Empfängerin zu sprechen. Tilemann von Bavenstedt, der von 1467-1497 dreißig Jahre als Propst für das Kloster tätig war, gab das Psalterium für seine Tante, Elisabeth von Bavenstedt in Auftrag, über die uns außer der verwandtschaftlichen Beziehung zu Tilemann nichts bekannt ist.

J 27, fol. 146v.
J 27, fol. 146v.

Explicit expliciunt, que cordis intima promunt.
Scriptando manu, totoque corporis usu.
Ut clare patebit oculo quis cuncta rimabit:
scripta cum floribus picturam sic sociamus.
Omnia hec fecit et famula sola peregit
in Meding claustro, Luneborch prope situato.
Ordinis ut fateor Cisterciensis et utor.
Sed si queratur, quod nomen mihi debetur,
omnibus et cognita de Winsen sic vocitata,
Elyzabeth proprio, de quo et gloria Christo.
Anno milleno quadruplex centum addito deno,
Sexaginta tribus cum quintario sociatus
Corporis in festo Cristi die venerando
Liber exorsus, suoque fine per[f]unctus
“Ad te levavi” cantat ecclesia dei.
Iubente venerabili domino preposito Tylemanno de Bavenstede
et necessaria ministrando ob amorem dilecte sue amite Elyzabeth
de Bavenstede et ad honorem dei, qui est sors, corona et premium
omnium sanctorum, et retributor eque omnium bonorum. Amen.

Schluss. Hier enden die Worte, welche die innersten Gedanken des Herzens zum Ausdruck bringen, wobei ich mit der Hand schrieb und der ganze Körper im Einsatz war. Wie klar zu sehen sein wird und wie man alles mit dem Auge durchsuchen kann: wir verbinden hier das Geschriebene mit Blumen und steuern so ein Gemälde bei. Das alles hat ganz allein die Dienerin (Christi) geschaffen und vollendet, im Kloster Medingen, das nahe bei Lüneburg liegt. Ich verrate: ich bin eine Zisterzienserin und lebe hier als solche. Wenn aber gefragt wird, welchen Namen ich trage: ich heiße, wie allen bekannt, von Winsen und mit Vornamen Elisabeth, wofür auch Christus Ehre geschuldet wird. Im Jahr tausend, viermal hundert plus zehn, dazu dreiundsechzig und noch fünf dazu (i.e. 1478), am Fronleichnamsfest, einem verehrungswürdigen Tag, ist das Buch begonnen worden und (an dem Tag,) an dem es sein glückliches Ende erreichte, singt die Kirche Gottes: „Zu dir erhebe ich“ (meine Seele). (Dies geschah) auf Geheiß des ehrwürdigen Herrn Propstes Tylemann von Bavenstedt, der das Notwendige (zur Herstellung des Buches, d.h. wohl: Pergament, Farben etc.) zur Verfügung stellte, um der Liebe zu seiner geliebten Tante Elisabeth von Bavenstedt willen und zur Ehre Gottes, der Anteil, Krone und Lohn aller Heiligen und ebenso Vergelter alles Guten ist. Amen.1

Deutlich anders als das Psalterium präsentiert sich die zweite Hildesheimer Handschrift. Der kleine Codex (J 29) diente einer Nonne des Medinger Klosters als privates Gebetbuch für die Osterzeit. Auffällig sind die üppig mit Blattgold geschmückten Initialen, die Verwendung fett aufgetragener Deckfarben sowie die hohe Anzahl von mit Spruchbändern ausgestatteten Miniaturen, oft am unteren Seitenrand platziert. Vielfach zeigen sie kirchliche Autoritäten, biblische Gestalten, und Engel, aber auch Tiere und sogar die Nonnen selbst. Durch die Marginalillustrationen wird der Haupttext – Gebete und Gesänge – aus einer anderen Perspektive kommentiert und/oder interpretiert. Dem Blick der betenden, singenden oder andächtigen Schwester bot sich damit von Seite zu Seite ein stets neu zu erfassendes Ensemble aus Texten, Bildern und Noten, das sie immer wieder zu neuen Sichtweisen bekannter und längst internalisierter Gebete anregen konnte. Einige herausgeschnittene Blätter deuten darauf hin, dass es auch Seiten mit ganzseitigen Illustrationen gegeben haben mag, die der Bildandacht dienten. Die unterschiedliche mediale Vermittlung von Andacht, Gebet und Gesang in diesem kleinen Gebetbuch zeigt die variantenreiche Fülle der Möglichkeiten, sich dem Göttlichen zu nähern und mit ihm zu verbinden.

Zwar wird in der Handschrift der Entstehungsort nicht genannt, doch ist aufgrund von Vergleichen mit anderen Gebetbüchern aus dem Kloster Medingen sehr wahrscheinlich, dass dieser kleine Codex ebenfalls aus Medingen stammt. Eindeutig ist seine Fertigstellung: 11 September 1478 (fol. 212r).

J 29, fol. 212r.
J 29, fol. 212r.

Bekannt ist auch die Schreiberin. Sie nennt ihren Namen auf fol. 118r: winheytem, also Winheid. Dieser nicht ganz seltene Name ist gleich zweimal in einer Konventsliste nachweisbar, die anlässlich des sog. Türkenablasses im Jahr 1481 erstellt wurde. Dort sind sowohl eine Winheid Dusterhope als auch eine Winheid von Winsen genannt. Welche von diesen beiden Konventualinnen als Schreiberin namhaft gemacht werden kann (oder ob es sich gar um eine vor Anfertigung der Liste verstorbene Winheid handelt), muss offen bleiben. Winheid von Winsen ist eine Schwester von Elisabeth von Winsen, der oben genannten Schreiberin des Psalteriums J 27, doch dieser Befund reicht nicht aus, um in Winheid von Winsen die Schreiberin des Gebetbuchs zu sehen.

J 29, fol. 118r.

Dr Gia Toussaint is a researcher at HAB focusing on monastic prayer books dating from the later Middle Ages.


  1. Textedition: Henrike Lähnemann, From Medingen to Harvard: The Wanderings of Two Medieval Manuscripts, in: Harvard Library Bulletin 28 (2017), p. 2-26 hier p. 5; Übersetzung: Fidel Rädle. [return]