Cod. Guelf. 70 Weiss., fol. 1v, Evangelium nach Lukas mit Glossen

Handschriften aus dem Kloster Weißenburg/Wissembourg

Ausstellung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (16. Febr. – 1. Juni 2020)

Unter dem Titel „Leuchtendes Wort. Sprechendes Bild“ zeigt die Herzog August Bibliothek ab dem 16. Februar 2020 eine große Auswahl aus ihrem Bestand von Handschriften aus dem Kloster Weißenburg im Elsass. Damit wird eine weitere mittelalterliche Bibliothek aus dem deutschen Sprachraum präsentiert. Der Schwerpunkt dieser Sammlung liegt im frühen Mittelalter, insbesondere im 9. Jahrhundert.

Die rund 100 Handschriften des Klosters gelangten 1689 als geschlossener Bestand in den Besitz der Herzog August Bibliothek. Es handelt sich überwiegend um Codices aus dem frühen Mittelalter, die in Weißenburg geschrieben und mit Buchmalerei ausgestattet, dort aufbewahrt und genutzt wurden. Die künstlerische Tätigkeit des Skriptoriums in den Jahren 800 bis 870 wurde bisher kaum untersucht. Erstmals widmet sich jetzt eine Ausstellung der Entwicklung und den Highlights des Weißenburger Skriptoriums und gewährt damit einen Einblick in die Gelehrsamkeit, das liturgische Leben und die Riten der Benediktinermönche.

Unter Karl dem Großen erfuhr das kulturelle Leben im Frankenreich gezielte und umfangeiche Förderung. In Werkstätten am Hof arbeiteten Schreiber und Künstler an Handschriften, die anschließend an bedeutende Klöster weitergegeben wurden, um dort als Vorlagen zu dienen. In einem dichten Netzwerk tauschten die Schreibzentren Ideen und Wissen aus. Sie entwickelten eigene Stile im Hinblick auf Buchschmuck und Layout. Das Benediktinerkloster St. Peter und Paul in Weißenburg (Wissembourg) wurde seit Mitte des 8. Jahrhunderts von den Karolingern gefördert. Es brachte Handschriften hervor, die nicht nur durch ihre neuartige Gestaltung und ihren eigenen Stil, sondern auch durch den modernsten Stand der Auslegung biblischer Texte auffielen.

Fig. 1: Cod. Guelf. 70 Weiss., fol. 1v, Evangelium nach Lukas mit Glossen – Evangelist am Schreibpult (11. Jahrhundert)
Fig. 1: Cod. Guelf. 70 Weiss., fol. 1v, Evangelium nach Lukas mit Glossen – Evangelist am Schreibpult (11. Jahrhundert)
Buchschmuck und Schriftbild

Die fantasievollen Blüten- und Blattmotive, welche die Handschriften des Skriptoriums um 800 bis 830 schmücken, sind in der regionalen Tradition verwurzelt. Seit den 830er Jahren verzichteten die Schreiber allmählich auf Buchschmuck und entwickelten stattdessen ein ausgewogenes Schriftbild mit gliedernden Auszeichnungsschriften. Der hier wohldosiert eingesetzte Initialschmuck steht kaum in Verbindung mit den früheren Handschriften. Im 2. Viertel des 9. Jahrhunderts erfolgte mit kontrastreichen Initialen ein einmaliger, größerer künstlerischer Impuls aus dem Kloster Fulda. In Anlehnung an die Buchmalerei aus St. Gallen und der Reichenau wurden Flechtbandinitialen und Goldauftrag verwendet.

Fig. 2: Cod. Guelf. 61 Weiss., fol. 98r, Evangeliar, Beginn des Evangeliums nach Lukas (2. Viertel des 9. Jahrhunderts)
Fig. 2: Cod. Guelf. 61 Weiss., fol. 98r, Evangeliar, Beginn des Evangeliums nach Lukas (2. Viertel des 9. Jahrhunderts)

Von 845 bis 870 stand das Skriptorium unter der Leitung des Mönchs und Dichters Otfrid, dessen berühmte, in althochdeutscher Sprache verfasste Evangelienharmonie zum Leben Jesu heute noch in vier Abschriften erhalten ist. Er unterhielt Kontakte zu Hrabanus Maurus in Fulda, zu Hartmut von St. Gallen und Walahfrid Strabo auf der Reichenau. Die Buchproduktion in Weißenburg stieg zu seiner Zeit deutlich an: aus den 25 Jahren stammen insgesamt so viele Bücher wie aus den 75 Jahren zuvor.

Fig. 3: Cod. Guelf. 131.1 Extrav., fol. 9r, Otfrid von Weißenburg, Leben Jesu (um 975)
Fig. 3: Cod. Guelf. 131.1 Extrav., fol. 9r, Otfrid von Weißenburg, Leben Jesu (um 975)
Liturgie und Exegese

Die Exponate erlauben Einblicke in das tägliche Leben der Mönche, den Gottesdienst, die Produktion literarischer Texte und das Studium der Bibel im Kloster. Auch wenn die meisten liturgischen Handschriften aus Weißenburg, die für religiöse Riten und Zeremonien eingesetzt wurden, verloren gegangen sind, ermöglichen doch einige erhaltene Stücke die Rekonstruktion des liturgischen Lebens im Kloster. Darunter sind zerstreute Fragmente in Einbänden, Bestandslisten und Ausleihvermerke aus dem 10. und 11. Jahrhundert, mittelalterliche Predigtsammlungen, Martyrologien oder die Benediktisregel für die monastische Gemeinschaft zu finden. Die frühmittelalterlichen Codices enthalten gelegentlich auch liturgische Gesangsstücke mit Aufzeichnungen zur Musik.

Für die theologische Ausbildung und die Grundlagen der Bibelexegese wurden in Weißenburg im 9. Jahrhundert aufwendige Abschriften von Werken der Kirchenväter erstellt. Handschriften mit Texten von Augustinus und Cassiodor verdienen hier besondere Aufmerksamkeit. Vorlagen mit zeitgenössischer Literatur wurden auch aus anderen Klöstern beschafft. Otrid verfasste nicht nur ein Evangelienbuch in der Volkssprache, sonder er überführte die bis dahin vorhandenen exegetischen Quellen in ein neues handschriftliches Layout, einen lateinischen Text mit Glossenapparat.

Fig. 4: Cod. Guelf. 33 Weiss., fol. 5r: Prophet Jesaja mit Glosse aus den Kirchenvätern
Fig. 4: Cod. Guelf. 33 Weiss., fol. 5r: Prophet Jesaja mit Glosse aus den Kirchenvätern

Diese Form sollte von da an für alle biblischen Bücher gelten und für die Ausbildung der Mönche benutzt werden. Die Handschriften und Fragmente zeigen die intellektuelle Leistung und die Herausforderungen, die mit diesem Vorhaben bei der Buchproduktion verknüpft waren. Sie waren wegweisend für die späteren Ausgaben glossierter Bibeltexte.

Digitales Angebot

Die meisten der ausgestellten Handschriften sind bereits vollständig digitalisiert und online verfügbar.

Zu den illuminierten Handschriften aus Weißenburg und anderen Klöstern der Karolingerzeit liegen neue Beschreibungen von Stefanie Westphal vor.

Begleitende Vorträge zur Ausstellung
  • 16.2.2020, 11.30 Uhr: Prof. Dr. Norbert Kössinger: Einführung in die Ausstellung
  • 22.4.2020, 18.00 Uhr: Dr. Christine Jakobi-Mirwald: The making of … Buchherstellung im Mittelalter
  • 27.5.2020: 19.00 Uhr: Prof. Dr. Tino Licht: Frühling der karolingischen Schriftkultur. Die Anfänge von Schreibschule und Bibliothek des Klosters Weißenburg

Patrizia Carmassi is a researcher at the HAB. She is currently cataloguing the medieval latin manuscripts of Göttingen University Library.

Stefanie Westphal is a researcher at the HAB. She is currently cataloguing the illuminated manuscripts of the HAB.

Christian Heitzmann is head of the HAB’s manuscript department and coordinates cataloguing and digitizing of medieval manuscripts at the HAB.

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