Der Bodleian Library

Die Bodleian ist stolz auf ihre reichhaltige Sammlung mittelalterlicher Handschriften aus dem deutschsprachigen Raum, aber sie ist sich auch der wechselhaften Geschichte bewusst, vor deren Hintergrund die Handschriften ihren Weg in die Sammlung fanden. Die 1630er Jahre waren eine Zeit der religiösen Unruhe, sowohl in Deutschland als auch in England. Die Eroberung katholischer Gebiete in Süddeutschland und im Rheinland durch die protestantischen Heere von König Gustavus Adolphus von Schweden und seinen Verbündeten führte zu der Vernichtung religiöser Orden und zur Verstreuung der Bücher ihrer Bibliotheken. In England war Erzbischof William Laud von 1633 bis 1645 Erzbischof von Canterbury und gleichzeitig von 1630 bis 1641 Kanzler der Universität Oxford, aber seine Allianz mit König Karl I im religiösen Streit zwischen hochkirchlichen Arminianern und Calvinisten führte schließlich 1645 zu seiner Hinrichtung.

In seiner Kapazität als Kanzler gilt Laud als so etwas wie der ‚zweite Gründer‘ der Bodleian. Er schenkte der Bibliothek sowohl westliche als auch orientalische Handschriften, die meisten davon mit religiösem und patristischem Inhalt. Der Tradition der Bibliothek folgend, wird an den Wohltäter erinnert, indem die Signaturen dieser Handschriften noch immer Lauds Namen tragen. Die Handschriften aus Deutschland (etwa 322 an der Zahl, zusammen mit einigen frühen Drucken) wurden größtenteils zwischen 1633 und 1639 zusammengetragen und kamen in drei Schüben nach Oxford. Der Bibliotheksraum aus dem 15. Jahrhundert (heute bekannt als Duke Humfrey’s Library), der 1602 von Sir Thomas Bodley wiedereröffnet worden war, wurde 1640–41 am Westende (heute bekannt als Selden End) erweitert, um die neuen Bestände zu beherbergen.

Lauds Handelsbeauftragte (deren Namen uns noch immer unbekannt sind) hatten bedeutsame Gruppen von Handschriften aus der Kathedrale in Würzburg, aus dem Kartäuser Haus (der Kartause) in Mainz und aus der Zisterzienserabtei in Eberbach im Rheingau besorgt. (Zur gleichen Zeit wurden im Auftrag von Thomas Howard, dem zweiten Earl von Arundel, an denselben Orten Käufe getätigt, diese liegen heute in der British Library.) Die Tatsache, dass die Bestände der Bodleian keine willkürlichen Zusammensammlungen sind, sondern gezielt erworbene zusammengehörige Gruppen von Handschriften aus individuellen Orden (eine schöne Auswahl religiöser Orden), lässt ihnen eine unschätzbar höhere Bedeutung zukommen. Die Würzburger Handschriften enthalten eine Vielzahl an karolingischen Handschriften, zu der es kaum eine vergleichbare britische Sammlung geben dürfte. Aber es ist nicht immer sicher, ob einzelne Handschriften in diesen drei zentralen Orden gekauft wurden, oder ob sie aus anderen Orten in Deutschland stammen und wir hoffen, dass das aktuelle Digitalisierungsprojekt dazu beiträgt, die Herkunft und Provenienz einiger bislang ‚unzugehöriger‘ Handschriften zu entwirren.

Von der Schenkung des Erzbischofs Laud abgesehen, gelangte der größte Teil der Sammlung des 17. Jahrhunderts von Material aus Deutschland in Form einer Schenkung in die Bodleian, in welcher der niederländische Philologe Franciscus Junius (1589–1677), ein ehemaliger Bibliothekar unter Thomas Howard, der Bibliothek eine kleine aber auserwählte Gruppe von Handschriften vermachte. Darunter befindet sich die berühmteste deutschstämmige Handschrift in der Bibliothek, MS. Junius 25, ein Set von verschiedenen Faszikeln aus dem 8. und 9. Jahrhundert, darin enthalten drei althochdeutsche Glossare und lateinische Hymnen mit deutschen Interlinearglossen, bekannt als die Murbacher Hymnen. Die ältesten Teile der Handschrift wurden von der Insel Reichenau im Bodensee in die Abtei Murbach im Elsass gebracht (und dort erweitert), von wo aus der Kodex im 17. Jahrhundert in die Niederlande gelangte und in die Hände des Philologen Marcus Zuerius Boxhorn und dann von Boxhorn zum Humanisten Isaac Vossius, der ihn an seinen Verwandten Junius weitergab. Neben den mittelalterlichen Handschriften enthält die Juniussammlung auch umfangreiche Zeugnisse seiner Studien zu den frühgermanischen Sprachen in Form seiner Transkriptionen und Editionsvorbereitungen von gotischen, altenglischen und althochdeutschen Texten.

Bis zum 19. Jahrhundert wurden keine Sammlungen mit einer nennenswerten Anzahl an Handschriften aus dem deutschsprachigen Gebiet mehr erworben. Im Jahr 1817 wurde ein Großteil der Sammlung des venezianischen ehemaligen Jesuiten Matteo Luigi Canonici (1727–1805/06) erworben, diese stellt noch heute den größten zusammenhängenden Kauf von mittelalterlichen Handschriften in der Geschichte der Bodleian dar. Unter den Canonici Handschriften befindet sich auch ein Sakramentar von der Insel Reichenau (MS. Canon. Liturg. 319) aus dem 11. Jahrhundert, der größten Schatz der Bibliothek unter den ottonischen illuminierten Handschriften. Die Handschrift wurde bereits in frühen Jahren nach Aquileia gebracht, womit sie nicht nur einen Platz hat in der Geschichte des Zustroms von ottonischen Handschriften nach Italien, sondern womit auch klar wird, wie sie in die Reichweite von Canonici kam und somit schlussendlich ihre Bleibe in Oxford fand.

Das Erbe von Francis Douce (1757–1834) enthielt die wahrscheinlich größte Sammlung illuminierter Handschriften, die die Bibliothek je erhielt. Douce kaufte die Handschriften zu einer Zeit, als in Folge der Säkularisierung der Klöster zu napoleonischer Zeit viele Bücher aus Deutschland auf den Markt kamen. Er besaß einige deutsche Beispiele, wie ein Homiliar, das anscheinend für einen Nonnenkonvent im Rheinland produziert worden war (MS. Douce 185) und zu dem ein Parallelband im Walters Art Museum in Baltimore überliefert ist (W. 148). Die Hamiltonsammlung wiederum, gestiftet von den Söhnen von Sir William Hamilton (gest. 1856), der die Bücher irgendwann vor 1841 von John Broad erhielt, als Hamilton in Edinburgh lebte, enthält einen großen Teil an Handschriften aus Erfurt. Der lateinische Text der Consolatio Philosophiae von Boëtius in MS. Hamilton 46 wird begleitet von einer deutschen Übersetzung großer Teile des lateinischen Textes in der Handschrift des Übersetzers, welche in margine und auf zwischengebundenen Blättern erhalten ist.

Im 20. und 21. Jahrhundert erweiterte die Bibliothek ihren Bestand an mittelalterlichen Handschriften. Die Bibliothek durfte eine Auswahl von einhundert Handschriften erwerben, die aus der Sammlung von James P. R. Lyell (gest. 1948), einem Londoner Anwalt, stammen, darunter befinden sich einige wichtige Handschriften aus österreichischen Klosterbibliotheken. Die Sammlung von Alfred Ehrmann (1890–1969), benannt nach dem Dorf Broxbourne in Hertfordshire, wurde 1978 von seinem Sohn John gestiftet. Ehrmann hatte eine deutsche Handschrift mit geomantischen und astronomischen Texten wegen ihres prachtvollen Einbandes erworben (MS. Broxb. 84.3), die 1469 von Nicolaus Breys von Bayreuth kopiert worden war. Unter den jüngsten Anschaffungen befindet sich eine Handschrift aus dem 15. Jahrhundert mit lateinischen Texten und Gedichten mit einem Fokus auf der Besinnung auf die Leiden Christi (MS. Don. e. 250), eine bemerkenswerte Überlieferung aus der Bibliothek der Straßburger Kartause, noch in seinem original Pergamenteinband und gekauft zu Ehren von Nigel Palmer zur Würdigung seines Beitrags zur Welt der Forschung im Allgemeinen und zur Handschriftenforschung in Oxford im Besonderen.

Adaptiert aus: Nigel F. Palmer, ‘Medieval German manuscripts in Oxford libraries‘‚ Oxford German Studies, 46/2 (Juni 2017), 126–140.

Martin Kauffmann