Augustiner-Chorherrenstift Sülte in Hildesheim

Der östlich des Hildesheimer Stadtkerns gelegene Salzsumpf (Sülte) galt den Bewohnern des Bischofssitzes seit jeher als Sitz von Geistern und Dämonen. Um diesem Aberglauben entgegenzutreten, gründete der Hildesheimer Bischof St. Godehard dort 1022 eine Kapelle mit einem Hospital und einer Pilgerherberge. Die an der erweiterten und 1034 neu geweihten Kirche tätige Klerikergemeinschaft wurde später durch die Einführung der Augustinusregel zu einem Chorherrenstift das 1147 urkundlich bestätig wurde. Die Sülter Chorherren waren in und um Hildesheim in der Seelsorge tätig; ihr Konvent war materiell reich ausgestattet und gehörte im 15. Jahrhundert zur Union der Sieben Stifte in Hildesheim, in der sich die einflussreichsten Einrichtungen der Bischofsstadt zur Wahrung ihrer Interessen zusammengeschlossen hatten.

Im Jahre 1439 traf der niederländische Augustiner-Chorherr Johannes Busch, der im Stift Windesheim bei Zwolle, einem der Zentren der “neuen Frömmigkeit”, der Devotio moderna, Profess abgelegt hatte, als neuer Subprior auf der Sülte ein; er wurde ein Jahr später zum Prior ernannt und blieb mit diesem Amt 1440–1447 und nochmals 1459–1479. Während dieser Zeit verbreitete er mit päpstlicher Unterstützung die Windesheimer Reform in Niedersachsen, Westfalen und Thüringen. Busch und seine Amtskollegen sorgten aber auch für die Erweiterung der Konventsbibliothek, über deren älteren Bestand nichts bekannt ist – die heute für die Sülte gesicherten 20 Handschriften, von denen sich 15 in der Herzog August Bibliothek befinden (darunter die neu erschlossenen Liturgica Cod. Guelf. 26 und 174 Helmst.), wurden sämtlich nach der Windesheimer Reform geschrieben. Hinzu kommen noch einige Inkunabeln und Frühdrucke. Im Zuge der Erschließung der Wolfenbütteler Handschriftenbestände konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die Chorherren der Sülte während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Codices für externe Auftraggeber anfertigten oder solche an befreundete Institutionen verschenkten. So stammen mehrere Texthandschriften aus dem späteren Besitz des Benediktinerklosters Clus bei Gandersheim von der Sülte (Cod. Guelf. 272, 292, 307, 385 und 386 Helmst.) oder zwei Handschriften aus dem Augustiner-Chorfrauenstift Heiningen (Cod. Guelf. 399 und 719 Helmst.), das von den Sültepröpsten Berthold Semeyer und Johannes Busch reformiert worden war.

Das Schicksal Stifts ab dem 16. Jahrhundert war immer wieder von kriegerischen Ereignissen bestimmt, welche den Buchbestand der Sülte bis auf die genannten Ausnahmen völlig vernichteten: Der gesamte, damals noch vor den Stadtmauern gelegene Stiftskomplex wurde 1546 vollständig geschleift; der notdürftige Neubau im Dreißigjährigen Krieg nochmals schwer beschädigt. Die aus den Zerstörungen geretteten liturgischen Codices wurden von evangelischen Schülern im frühen 17. Jahrhundert mutwillig zerschnitten, einige Fragmente kehrten später wieder zurück. Das Stift wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts neu errichtet; nach der Aufhebung 1803 erfolgte jedoch keine weitere Nutzung, denn die zunächst als Kaserne dienenden Gebäude wurden um 1830 abgerissen. An ihrer Stelle befinden sich heute ein Hotel und ein Veranstaltungszentrum, so dass außer den wenigen erhaltenen Büchern, zu denen sich im Laufe der weiteren Erforschung der Bestände noch das eine oder andere Stück gesellen mag, nichts mehr an das einstige Stift auf der Hildesheimer Sülte erinnert.

  • Bertram Lesser

Weiterführende Literatur

Hermann Herbst, Beiträge zur Geschichte der Bibliothek des Sülteklosters zu Hildesheim, in: Alt-Hildesheim 15 (1936), pp. 30–36

Stefan Bringer, Das Augustiner-Chorherrenstift St. Bartholomäus zur Sülte in Hildesheim. Seine Geschichte zwischen Reformation und Säkularisation und die Seelsorgetätigkeit seiner Chorherren, in: Die Diözese Hildesheim in Vergangenheit und Gegenwart 65 (1997), p. 129–173

Stefan Bringer, Article: “Hildesheim – Kollegiatstift zur Sülte; seit 1119/30 Augustiner-Chorherrenstft, später zeitweilig Doppelstift (Ca. 1034 bis 1803)”, in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, 4 vols., hrsg. von Josef Dolle und Dennis Knochenhauser, Bielefeld 2012 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 56/1–4), vol. 2, pp. 706–712