Die Herzog August Bibliothek

Die Herzog August Bibliothek besitzt eine bedeutsame, in Norddeutschland einzigartige Sammlung von Klosterbibliotheken aus dem Spätmittelalter. Diese Sammlungen formen den wertvollen Kern und den wichtigsten Teil der historischen Sammlung. Als Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg, selbst ein gelehrter Mann und Bibliophiler, 1568 die Herrschaft über das Fürstentum Wolfenbüttel übernahm, führte er in seinen Ländern sofort die lutherische Konfession ein – gemäß dem berühmten Motto, das den Frieden von Augsburg (1555) zusammenfasst: „cuius regio, eius religio“ (wessen Herrschaftsbereich, dessen Religion). Tatsächlich entschieden Deutsche Fürsten damals über die Konfession ihrer Untertanten. Herzog Julius brachte 36 Klöster aus seinem Herrschaftsgebiet unter seine Kontrolle. Er entschied, deren Bibliotheken in seine Residenz in Wolfenbüttel zu überführen und die alten, papistischen und abergläubischen Bücher in den Klöstern durch gute lutherische Bücher zu ersetzten. Im Jahr 1572 wurden die Bibliotheken – Handschriften und Drucke – aus den Frauenklöstern Lamspringe, Marienberg, Wöltingerode, Steterburg, Dorstadt und Heiningen nach Wolfenbüttel gebracht. Männerklöster hingegen durften ihre Bücher behalten, weil Herzog Julius sie in Schulen für die protestantische Jugend umwandeln wollte. Aus diesem Grund wurden leider nicht alle Bibliotheken nach Wolfenbüttel gebracht – und viele wurden während des Dreißigjährigen Krieges zerstört, eine katastrophale Zeit für Niedersachsen und viele andere Regionen des Heiligen Römischen Reiches.

Die Privatsammlung von Herzog Julius und die nach Wolfenbüttel übersiedelten Klosterbibliotheken bildeten die sogenannte Bibliotheca Julia, die fürstliche Bibliothek des 16. Jahrhunderts. Im Jahr 1572 wurden die Regularien zur Benutzung der herzoglichen Bibliothek veröffentlicht – die Grundsteinlegung unserer Bibliothek. Herzog Julius war darüber hinaus Gründer der Universität Helmstedt, etwa 40 Kilometer von Wolfenbüttel entfernt. Julius‘ Enkel Herzog Friedrich Ulrich entschied, die Bibliotheca Julia in die Universität zu verlagern, um die Bücher dem akademischen Gebrauch zukommen zu lassen. Kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges wurden die Bibliotheken der Benediktiner Männerklöster Clus und Northeim (zu der Zeit bereits reformierte protestantische Orden) direkt nach Helmstedt gebracht. Dies ist der Grund, warum die Signaturen aller Bücher aus Klosterbibliotheken Nummern, Formate und den Namen ihrer Provenienz „Helmst.“ enthalten. In den letzten zehn Jahren wurden die Helmstedter Handschriften intensiv erforscht.

  • Ein neuer Katalog der 1014 mittelalterlichen Helmstedter Handschriften ist seit 2001 in Arbeit. Er enthält detaillierte Beschreibungen der Handschriften, die den anerkannten Richtlinien entsprechen, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den deutschen Raum aufgestellt wurden. Der erste Band des gedruckten Kataloges wurde 2012 publiziert. Die Beschreibungen, zusammen mit Digitalisaten (sofern bereits vorhanden), sind online einsehbar in der Handschriftendatenbank unserer Bibliothek und der Nationalen Datenbank Manuscripta Mediaevalia. Bislang sind etwa 500 mittelalterliche Helmstedter Handschriften untersucht und ihre Beschreibungen sind online einsehbar.
  • Die Bibliothek der Benediktinernonnen in Lamspringe stand 2007 im Zentrum einer Ausstellung. Diese wurde begleitet von einem Katalog und Beschreibungen der meisten hochmittelalterlichen Handschriften, die von den Nonnen für ihren eigenen Gebrauch produziert worden waren.
  • Gefördert vom Staat Niedersachsen wurden die Bibliotheken von fünf Konventen rekonstruiert, untersucht und teilweise digitalisiert: die der Augustiner Nonnen in Dorstadt, Heiningen und Steterburg, die der Zisterzienser Nonnen in Wöltingerode und die der Augustiner Kanonissen in Georgenberg in der Nähe von Goslar. Die Ergebnisse dieser Forschungen wurden in vier Büchern publiziert, darunter zwei Dissertationen und ein Ausstellungskatalog.
  • Die Bibliothek der Benediktiner von Clus, ein wichtiges Zentrum der klösterlichen Reform im 15. Jahrhundert, wurde erst kürzlich zum Forschungsobjekt. Dabei wurden insbesondere die verzierten Einbände und die darauf geklebten alten Signaturen herangezogen, um zum ersten Mal die reiche Sammlung an Büchern zu rekonstruieren, die hier produziert und genutzt wurden, bevor die Reformation eingeführt wurde. Die Digitalisierung der verbleibenden klösterlichen Handschriften wird weitere Forschungen ermöglichen, insbesondere die von fünf Konventen: der bereits erwähnten Benediktiner von Clus, der Augustiner Kanonissen von Sülte in Hildesheim, der Zisterzienserinnen in Marienberg in Helmstedt, der Kanonissen von St. Blasius in Braunschweig und der Benediktinerinnen von Medingen. Jeder Konvent hatte sein eigenes spirituelles und intellektuelles Profil, abhängig sowohl von jeweiligen Orden als auch von Interessen individueller Mönche und Nonnen.

Christian Heitzmann