Würzburg (Benediktinerabtei St. Stephan, Kathedralkirche von St. Kilian, andere religiöse Orden)

Die Diözese Würzburg wurde 741 oder 742 von St. Bonifatius (gest. 754), dem angelsächsischen Missionar, gegründet. Als ersten Bischof setzte er seinen Anhänger und Landsmann St. Burchard (gest. 753) ein; im Jahr 752 ließ Burchard die Gebeine des irischen Heiligen St. Kilian (gest. 689?) in die Kathedrale überführen, der zuvor Missionar in der Gegend gewesen war und dem die Kathedrale geweiht ist. Bereits in frühen Jahren entstand eine Kathedralschule – der erste Bischof von Paderborn erhielt dort seine Ausbildung – und die Kathedrale baute eine bedeutsame Bibliothek auf. Sie ist eines von relativ wenigen frühmittelalterlichen Zentren, aus denen eine große Menge an Handschriften erhalten ist, und eine von lediglich drei Kathedralkirchen mit einer karolingischen Bücherliste.

Die aus der Kathedralbibliothek überlieferten Handschriften befinden sich heute nahezu vollständig in den Beständen der Bodleian Libraries und der Universitätsbibliothek Würzburg. In der Universitätsbibliothek befinden sich knapp 200 mittelalterliche Handschriften, die 1717 auf dramatische Weise auf dem Dachboden der Kathedrale wiederentdeckt wurden, wo sie allem Anschein nach während des Dreißigjährigen Krieges versteckt wurden. Die Handschriften der Universitätsbibliothek wurden 2013 digitalisiert – durch das laufende Bodleian Projekt wird somit nahezu alles, was aus dieser wichtigen mittelalterlichen Bibliothek überliefert ist, online frei zugänglich sein.

Die frühesten überlieferten Handschriften der Kathedrale wurden nicht in der Kathedrale selbst geschrieben – ein Skriptorium wurde dort wahrscheinlich frühestens gegen Ende des 8. Jahrhunderts eingerichtet. Der größte Teil dieser vor 800 entstandenen Handschriften liegt in der Universitätsbibliothek, eine Handschrift jedoch liegt in der Bodleian: die älteste Handschrift von Augustinus‘ De Trinitate (Bodleian MS. Laud Misc. 126), deren unverkennbare Unzialhandschrift vermuten lässt, dass sie in einem Frauenkloster in der Gegend um Paris herum entstand. Die berühmten griechisch-lateinischen Akten des W. Laud (Bodleian MS. Laud Gr. 35), die von Italien zu Beda nach Northumbria reisten, bevor sie von angelsächsischen Missionaren nach Deutschland gebracht wurden, könnten sich ebenfalls in der Kathedrale befunden haben. Diese Handschrift wurde schon vor einiger Zeit anhand des „actus apostolorum“ identifiziert, welcher in den frühesten Bücherlisten vermerkt ist, sicher ist dies jedoch nicht. Auf jeden Fall waren die angelsächsischen Einflüsse auf die Würzburger Buchkultur so stark wie auch in anderen Gebieten der Mission des St. Bonifatius – so wurden nicht nur Bücher aus England importiert, sondern auch insulare Praktiken der Buchproduktion sowie Schriftstile und Dekorationen übernommen.

Ende des 8. Jahrhunderts hatte die Kathedrale eine beachtliche Bibliothek aufgebaut. Die Bücherliste aus dieser Zeit in MS. Laud Misc. 126 – eine der ältesten überlieferten Bücherlisten aus dem mittelalterlichen Europa – listet 36 Bände auf, hauptsächlich patristische Texte, aber auch Grammatiken, kanonische Rechtsbücher und Bände von Beda und Aldhelm, worin sich die angelsächsische Herkunft des Bistums wiederspiegelt.

Diese Sammlung wurde im 9. Jahrhundert stark erweitert, hauptsächlich unter den Bischöfen Hunbert (833–842) und Gozbald (842–855). Tatsächlich stammt der größte Teil der Kathedralhandschriften aus dieser Zeit, als insulare Gewohnheiten abgelöst wurden von der kontinentalen Schrift, bekannt als ‚karolingische Minuskel‘. Der Fokus liegt wieder auf patristischen Autoren, insbesondere Augustinus, aber ebenso Hieronymus und Gregor, mit einigen kanonischen Rechtsbüchern und Bußtexten. Die einzigen großen zeitgenössischen Texte stellen Bibelkommentare von Hrabanus Maurus, dem Abt des nahegelegenen Klosters Fulda und Briefpartner von Bischof Hunbert. Einige dieser Handschriften des 9. Jahrhunderts sind reich an zeitgenössischen Annotationen und Marginalien, was ihre intensive Nutzung in der Kathedralschule bezeugt.

Obgleich es sich um wichtige Bücher handelt, sind sie optisch zugegebenermaßen eher gewöhnlich. Es gibt keine Hinweise darauf, dass es in Würzburg Bestrebungen gab, selber Prachtbände herzustellen. Stattdessen wurden qualitativ hochwertige Bücher, beispielsweise zur liturgischen Verwendung, aus anderen Zentren importiert, insbesondere aus Fulda. Das schönste in der Bodleian erhaltene Exemplar ist ein Evangeliar aus dem 9. Jahrhundert, Bodleian MS. Laud Lat. 102. Zwei aufwändig gestaltete Evangeliare in der Universitätsbibliothek wurden ebenfalls in Fulda hergestellt.

Natürlich spiegeln die überlieferten Bücher den ursprünglichen Bestand der Kathedralbibliothek nicht getreu wieder. Zum Beispiel ist nur sehr wenig klassisches Material überliefert und es gibt generell kaum Spuren der Texte, die in der Kathedralschule für den Unterricht der freien Künste herangezogen wurden. Selbst im Bereich der patristischen Literatur oder der Bibelkommentare war die Sammlung der Kathedrale weitaus umfangreicher, als es die überlieferten Bücher vermuten lassen. Bischof Hunbert verweist auf Texte von Hieronymus, Victorinus von Pettau und Ambrosius, die nicht erhalten sind. Darüber hinaus ist eine Bücherliste von etwa 1000 überliefert, die auf eine Bibliothek mit mehreren hundert Bänden schließen lässt. So listet sie, um nur ein Beispiel zu nennen, sieben verschiedene Genesiskommentare, von denen heute nur noch lediglich eine Handschrift existiert.

Noch weniger ist aus den Beständen des 10. und 11. Jahrhunderts überliefert. Zu dieser Zeit war die Kathedralschule zumindest zeitweise weithin bekannt, etwa 50 Handschriften aus der Ottonenzeit konnten auf Grundlage paläographischer Untersuchungen dem Würzburger Skriptorium zugeordnet werden. Jedoch gehörten nur sehr wenige davon dem Domstift selber – sie bildeten den Bestand anderer mittelalterlicher Bibliotheken, insbesondere Einsiedeln und Bamberg, und wurden vermutlich für den ‚Export‘ produziert. In den Beständen der Bodleian ist aus dieser Zeit nur eine einzige Handschrift erhalten, die im Domstift selber geschrieben wurde: eine Predigtsammlung (Bodleian MS. Laud Misc. 157). Zwei aufwändig gestaltete Handschriften des Psalterkommentars, der Bruno von Würzburg zugeschrieben wird ((Bodleian MS. Laud Lat. 96, MS. Rawl. G. 163), wurden in Tegernsee geschrieben, eine davon für einen nicht identifizierten Würzburger Patron, möglicherweise das Domstift, sicher ist dies jedoch nicht.

Zur späteren Geschichte der Bibliothek, der Schule oder dem Skriptorium wurde nur wenig geschrieben. Der Löwenanteil der Bestände des 12. und 13. Jahrhunderts befindet sich in der Bodleian. Viele dieser Bücher sind Importe, sie spiegeln wieder, wie sich seit dem 12. Jahrhundert Aspekte des Lernens und der Buchproduktion in Europa deutlich spezialisieren. So gibt es beispielsweise eine Gruppe glossierter Bibelbücher aus Frankreich. Aber es gibt auch Bibelhandschriften, Homiliare und liturgische Bücher, die aus der Würzburger Gegend stammen. Eine eingehende Untersuchung dieser Handschriften und ihrer Annotationen wäre wünschenswert, da diese die Identifizierung von Handschriften aus dem Würzburger Skriptorium in anderen Bibliotheken ermöglichen und die intellektuelle Kultur der Kathedrale erhellen würde.

Die Handschriften aus dem ausgehenden Mittelalter sind größtenteils in der Universitätsbibliothek überliefert, in der sich eine beachtliche Menge an Handschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert findet. In der Bodleian ist die Provenienz vieler Handschriften aus dieser Zeit ungeklärt, eine Zuordnung zur Stadt oder der Kathedrale ist alleine auf Grundlage liturgischer Hinweise möglich. Dazu gehört beispielsweise eine Martyrologie aus dem 14. Jahrhundert, die möglicherweise von den Würzburger Franziskanern stammt [MS. Laud Misc. 425]. Ein Legendar aus dem 15. Jahrhundert (Bodleian MS. Laud Misc. 163) hat möglicherweise dem Domstift gehört: die Tatsache, dass es eine Vita von Burchard, dem ersten Bischof des Bistums, enthält, lässt vermuten, dass es in Würzburg geschrieben wurde. Die Vita wurde im frühen 12. Jahrhundert für den Abt Peregrinus der Benediktinerabtei St. Burchard in Würzburg geschrieben und wurde auch in spätmittelalterlichen Handschriften aus St. Stephan und dem Stift Haug in Würzburg kopiert. Etwa 700 Jahre nachdem die Missionare das Bistum gegründet haben, wird ihr Leben noch immer mit großem Interesse studiert.

  • Matthew Holford

Weiterführende Literatur

St. Bonifatius, St. Burchard und St. Kilian werden im Oxford Dictionary of National Biography behandelt.

Wichtigste Quelle für die Würzburger Handschriften der Bodleian ist Daniela Mairhofers Medieval manuscripts from Würzburg in the Bodleian Library, Oxford: a descriptive catalogue (Oxford, 2014). Sie bietet eine detaillierte Beschreibung aller Handschriften und eine umfassende Einführung. Die Handschriften der Universitätsbibliothek Würzburg sind auf der Seite Libri Sancti Kiliani zugänglich. Andere überlieferte Handschriften aus Würzburg werden in Sigrid Krämers Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters (München, 1989–1990) gelistet.

Eine grundlegende Untersuchung des Skriptoriums des Domstifts und seiner Bibliothek bis etwa 900 bieten Bernhard Bischoff und Josef Hofmann in Libri Sancti Kyliani: die Würzburger Schreibschule und die Dombibliothek im VIII. und IX. Jahrhundert (Würzburg, 1952). Die ottonische Zeit wird in mehreren Werken von Hartmut Hoffmann behandelt: Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich (1986); Schreibschulen des 10. und des 11. Jahrhunderts im Südwesten des Deutschen Reichs (2004) und Die Würzburger Paulinenkommentare der Ottonenzeit (2009).

Alle überlieferten Bücherlisten aus Würzburg sind gedruckt, mit Einführung, in Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz IV, 2 (1979), 948–1012.